Benjamin Baitinger koordiniert im IB-Bildungszentrum Böblingen Schulbegleiter*innen nach Eingliederungshilfe § 35a SGB VIII. Sehr häufig werden dabei junge Menschen mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung begleitet, um sie in ihrem Schulalltag auf individuelle Weise zu unterstützen. Zum Autistic Pride Day am 18. Juni erzählt er von weit verbreiteten Stereotypen, der Fußball-EM, was er sich vom deutschen Schulsystem wünscht – und hat einen Buchtipp.
Wie äußert sich eine Autismus-Spektrum-Störung?
Benjamin Baitinger: Zunächst gilt für mich die Devise: Kennt man eine Person mit Autismus – dann kennt man genau eine Person mit Autismus. Das bedeutet, man kann nicht von “dem Autismus“ sprechen. Die Autismus-Spektrum-Störung tritt sehr individuell auf. Die Welt im Bereich des Autismus ist sehr bunt und vielfältig.
Aber es gibt gerade mit diagnostischem Bezug Merkmale, an denen man sich orientieren kann. Zwei bis drei davon sind häufig bemerkbar: erstens die Beeinträchtigung in der Kommunikation; zweitens die Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, also wenig Blickkontakt, vielleicht reagiert die Person auch nicht gleich auf ihren Namen, zeigt sich vielleicht nicht so sehr gesellig; drittens eingeschränktes Interesse und stereotype Verhaltensmuster. Letztere können zum Beispiel immer wiederkehrende Sätze oder motorische Bewegungen sein. Je nach Störungsspektrum können diese Verhaltensmuster unterschiedlich stark ausgeprägt sein, in starker oder milder Form, bis kaum oder nicht erkennbar.
Was tun Sie konkret für Menschen mit Autismus im IB-Bildungszentrum Böblingen?
Benjamin Baitinger: Im Bildungszentrum Böblingen koordiniere ich als Sozialarbeiter ein Team von Pädagogen*Pädagoginnen, die an verschiedenen Schulen zum Einsatz kommen. Dort unterstützen sie junge Menschen, die ein ganz unterschiedliches Hilfeangebot im Schulalltag benötigen. Der Schwerpunkt der Unterstützung liegt bei jungen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, also ASS, und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung beziehungsweise Aufmerksamkeitsstörung, also ADHS beziehungsweise ADS. Aber auch junge Menschen mit anderen seelischen Beeinträchtigungen, wie beispielsweise fetale Alkoholspektrumstörung, kurz FASD, können möglicherweise Unterstützung benötigen.
Ich leite im Team der Schulbegleitung die Kollegialen Fallberatungen und Teamsitzungen an und interagiere mit den Familien der Kinder, die Unterstützung benötigen, den Schulen und bin Kontaktperson für die Schulbegleiter*innen in unserem Team.
Verfolgen Menschen mit Autismus die Fußball-EM in Deutschland so wie andere auch?
Benjamin Baitinger: Es kann sein, dass Fußballstadien oder Public Viewings für Menschen im Autismus-Spektrum unattraktiv sind, müssen sie aber nicht. Verallgemeinert geht man davon aus, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung nicht unbedingt starken Reizen wie hohe Lautstärke, viel Durcheinander oder Menschenmassen ausgesetzt sein möchten. Das muss aber nicht sein, wie bereits oben erwähnt gibt es im Bereich Autismus-Spektrum-Störung eine hohe Individualität, die die allgemeine Regel entkräften kann – wie beispielsweise das Buch „Wir Wochenendrebellen“ zeigt. In der Autobiografie reist ein Vater mit seinem Sohn von einem Stadion zum nächsten, um seine Lieblingsmannschaft zu finden. Das Buch wurde bereits mit dem Schauspieler Florian David Fitz verfilmt.
Was könnten Staat, Wirtschaft und Gesellschaft tun, um diese Menschen besser zu unterstützen?
Benjamin Baitinger: Generell sollte die Gesellschaft den Inklusionsgedanken mehr leben und verinnerlichen. Deutschland benötigt mehr Aufklärung mit Bezug auf diese Diagnose. Spielfilme und Serien zeichnen oft ein eher stereotypisches Bild. Die Merkmale im Autismus-Spektrum können auch sehr schwach ausgeprägt sein und dennoch bräuchten die Personen Unterstützung, um mit ihrer Umwelt zu interagieren. So wäre auch eine starke Interaktion zwischen sonderschulpädagogischen Lehrkräften und Lehrkräften an Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen für mich wünschenswert.
Auch die Zusammenarbeit zwischen Inklusionskräften und den Lehrkräften aus diversen Schulformen sollte inniger sein. Denn die Inklusionskräfte sind es, die einen guten Bezug zum Kind entwickeln. Die Inklusionskräfte sind das wichtige Personal, das den Lehrkräften die Bedürfnisse des Kindes so mitteilen kann, wie es das Kind selbst vielleicht nicht mitzuteilen vermag.
Generell bin ich der Meinung, angehende, aber auch bereits dozierende Lehrkräfte an Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen sollten mehr Lehrinhalte der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren, der SBBZ, aufgreifen. Oder sie sollten darüber unterrichtet werden, wie diese in ihr Schulsystem gut eingebettet und umgesetzt werden können. Der Übertrag übergreifender diverser Methodiken aus der Sonderschulpädagogik auf andere Schuleinrichtungen sollte politisch diskutiert und gesetzlich beschlossen werden.
Und natürlich sollten die Lehrkräfte aus oben genannten Schulen auch den Willen zu dieser inklusiven Umsetzung haben. Denn die Arbeit zusammen mit den jungen Menschen im Bereich Autismus-Spektrum, aber auch mit Menschen anderer seelischer Beeinträchtigung, sollte meiner Meinung nach eine Herzensangelegenheit sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Matthias Schwerdtfeger