„Ich weiß noch, wie erstaunt die waren, dass wir zum Kochen einen Kohleherd hatten“


Andreas Koth und Ilona Kämpgen-Mahnke

Andreas Koth und Ilona Kämpgen-Mahnke arbeiten seit den 90er-Jahren für den Internationalen Bund (IB). Fotos: privat

Nicht nur Deutschland wuchs ab 1990 zusammen, auch der IB expandierte in die damals neuen Bundesländer. Ilona Kämpgen-Mahnke (IB Nord) und Andreas Koth (IB Mitte) waren dabei und sind es bis heute. Im Interview zum Tag der Deutschen Einheit erzählen sie von Unsicherheit, Unternehmungen mit Grenzsoldaten, Trips an die Ostsee und was sich durch den IB änderte.

Was können Sie über die Expansion des IB ins Ostdeutschland der 90er berichten?

Andreas Koth: Ich bin erst seit 1995 beim Internationalen Bund. Der IB hat sich aber bereits seit 1990 im Osten engagiert. Es wurden vielerorts Einrichtungen der Berufsbildung aus DDR-Betrieben übernommen. Die Menschen konnten dadurch ihre Ausbildung fortsetzen. Es gab dann auch relativ bald neue Ausbildungsberufe. In Dresden übernahm der IB zum Beispiel die Berufsausbildung des IT-Unternehmens Mikromat, genauso beim Landmaschinenbau Fortschritt im sächsischen Neustadt und in Zschopau bei den MZ Motorradwerken. Es kamen auch weitere Einrichtungen hinzu, zum Beispiel das Bildungszentrum in Hirschfeld bei Zittau.

Das Portfolio erweiterte sich kontinuierlich um Einrichtungen wie Kitas oder Jugendeinrichtungen und Projekte der Sozial- und Familienhilfe. Partner für den Aufbau des IB hier in der Region Sachsen war der IB in Stuttgart.

Ilona Kämpgen-Mahnke: Ich habe ab 1988 in einem ehemaligen Kinderheim in Gülze im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim gearbeitet. Das liegt in Mecklenburg-Vorpommern und war damals nahe der innerdeutschen Grenze. Die dort stationierten Grenzsoldaten gehörten für uns ganz selbstverständlich zum Bild des Dorfes. Es fanden gemeinsame sportliche Aktionen statt, an denen sich die Kinder und Jugendlichen begeistert beteiligt haben. Heute würde ich sagen, es hatte ein bisschen was von spielerischer Wehrerziehung.

Eines Tages besuchten uns zwei Herren vom IB. An ihrem Auto war auch ohne Nummernschild eindeutig erkennbar, dass sie aus dem „Westen“ kamen. Sie schauten sich unsere Einrichtung an, weil der IB Interesse an einer Übernahme der Trägerschaft hatte. Das führte zum Teil zu Unsicherheit bei langjährigen Mitarbeitenden. Was wird sich verändern? Ich weiß noch, wie erstaunt die Männer waren, dass wir in der Küche einen Kohleherd hatten, mit dem das Essen für die Kinder und Jugendlichen gekocht wurde. 

Irgendwann kam die Entscheidung: Der IB übernimmt. Alle Mitarbeitenden mussten sich neu bewerben. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich im Nachtdienst auf einer laut klickenden Schreibmaschine meine Bewerbung getippt habe, die morgens abgegeben werden musste.

Wie änderte sich die Aufstellung sozialer Träger im Vergleich mit DDR-Zeiten? Welche Rolle spielte der IB dabei?

Andreas Koth: Nach dem Fall der Mauer herrschte im Osten große Unsicherheit, wie es nun weitergehen werde. Betriebe wurden im großen Stil geschlossen, viele Menschen wanderten in den Westen ab, andere sahen sich einer beruflichen Perspektivlosigkeit gegenüber. In dieser Zeit hat der IB - wie schon zu seiner Gründungszeit - vielen Menschen wieder eine Perspektive gegeben. Er hat gemeinsam mit der Agentur für Arbeit und anderen Partnern berufliche Fortbildungen umgesetzt. Es gab soziale Projekte zur Wiedereingliederung. Betreutes Jugendwohnen, Familienhilfen, Freiwilligendienste und mehr kamen hinzu. Die Palette der Projekte vergrößerte sich stetig.

Ilona Kämpgen-Mahnke: In der Wirtschaft wurde genau geschaut, welchen Job man noch brauchte. In der DDR bekamen die Menschen ihren Arbeitsplatz zum Teil auch anhand ihrer Fähigkeiten, auch wenn diese einen geringeren Umfang hatten. Jetzt bauten viele Betriebe Stellen ab. Wirtschaftlichkeit ging vor Allgemeinnutzen.

Die soziale Arbeit mit älteren Kinder und Jugendlichen war nun stärker an deren Mithilfe ausgerichtet als zu DDR-Zeiten. Es gab in unserem Haus vorher Näherinnen, Reinigungskräfte und Wäscherinnen, die viel erledigten. Diese Aufgaben fielen nach und nach weg. Der neue Ansatz lautete, die Alltagsaufgaben mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam zu erledigen: Einkaufen, Essen machen, Putzen und so weiter. Ich fand, das war und ist der richtige Weg, weil es in Familien auch so läuft. Das führt zu mehr Selbstständigkeit, denn für die Jugendlichen war das Ziel, mit Volljährigkeit im eigenen Wohnraum zu leben. Dort begleiteten und unterstützten wir die Jugendlichen über einen gewissen Zeitraum noch stundenweise. 

Zu DDR-Zeiten war unsere Einrichtung eher wie eine Familie. Die Kinder und Jugendlichen verbrachten dort mehrere Jahre und fühlten sich mit der Einrichtung verbunden. Nun änderte sich das Klientel. Es kamen verstärkt junge Menschen zu uns, die schwieriger im Umgang waren. Unsere Einrichtung war etwas abgelegen. Jugendliche kamen aus Großstädten auf das platte Land, um ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Der IB hat seine Angebote an den Bedarfen orientiert. Wir als Team waren eingebunden in die Entwicklung und Ausgestaltung der Konzepte.  

Wie haben Sie den nach Osten expandierenden IB damals erlebt?

Andreas Koth: Ich selbst habe den IB als Unterstützer der Menschen erlebt, der ihnen wieder zu einem eigenständigen Leben verhalf. In Bezug auf meine eigene berufliche Entwicklung war immer ein Stück Eigeninitiative und Kreativität gefragt. Auch dabei hat mich der IB und die damals Verantwortlichen, zu denen Karola Becker zählte, immer unterstützt. So konnte ich mich beruflich weiter entwickeln sowie mich in all meinen Positionen und Tätigkeitsfeldern einbringen und dabei Neues schaffen.

Beim IB gab es viel Raum für Vernetzung von Projekten und Expertisen. Bei den vielen verschiedenen Tätigkeitsfeldern, Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die ich bisher ausführen durfte, hätten es auch viele verschiedenen Arbeitgeber sein können. Aber ich hatte das Glück, dass es immer der IB war. Auch habe ich das "I" in IB immer als Auftrag gesehen, meine Expertise über die Grenzen Deutschlands hinaus Menschen zugänglich zu machen. So gelingt es hoffentlich, gemeinsam die Welt jeden Tag ein wenig besser zu machen.

Ilona Kämpgen-Mahnke: So wie im gesamten Land war auch in unserer Einrichtung Aufbruchstimmung und Erneuerung spürbar. Wir bekamen jetzt Waschmaschinen mit Wäschetrockner anstatt unseres beheizten Kessels. Aus den Vier- wurden Zwei-Bettzimmer. Das waren viel bessere Wohnbedingungen für die Kinder und Jugendlichen. Sie wurden zur Gestaltung ihres Alltages mehr gehört und einbezogen. Die Hausversammlungen waren weniger formell, es mussten keine FDJ-Hemden mehr getragen werden. Dazu ergaben sich viele neue berufliche Möglichkeiten für Jugendliche, die keinen perfekten Schulabschluss vorweisen konnten, wie zum Beispiel ein Berufsvorbereitendes Jahr. 

Wir bekamen über die Aktion Mensch – damals noch Aktion Sorgenkind – einen VW Transporter. Damit eröffneten sich neue Möglichkeiten, gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen etwas zu unternehmen.  Oft packten wir am Freitagabend die Jugendlichen ein und fuhren zum Beispiel alle zusammen übers Wochenende an die Ostsee oder in die Ferien.

Der IB ermöglicht den Mitarbeitenden damals und bis heute die Teilnahme an Fortbildungen zu den Themen der Zeit. Anfangs war ich ehrlich gesagt manchmal verblüfft, wie ausschweifend Menschen aus den damals alten Bundesländern mitunter ganz kleine Fragen beantworten. (lacht) Auf jeden Fall habe ich mit vielen damaligen Mitarbeitenden aus West und Ost, die ich als Kollegen*innen im IB kennenlernen durfte bis heute Kontakt, das ist sehr schön!

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Matthias Schwerdtfeger


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