Frau Kauer, warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, das Thema Mentale Gesundheit an Schulen, mit Schüler*innen zu thematisieren?
Mentale Gesundheit geht alle an. Meines Erachtens gab es in der Gesellschaft viel zu lange keinen offenen Umgang mit dem Thema. Die Tatsache, dass unsere Psyche genau wie unser Körper erkranken und Schmerzen erleiden kann, wurde oft tabuisiert und stigmatisiert. Für viele Menschen entstand der Eindruck, allein mit Problemen, Ängsten, Zweifeln oder schwierigen Momenten fertig werden zu müssen. Oft verstärkten Gefühle wie Scham oder Schuld diesen Zustand.
Dabei ist das „darüber reden“ meist der erste Schritt zur Bewältigung. Je früher ich lerne, was Mentale Gesundheit allgemein und für mich bedeutet, desto eher kann ich anfangen, herauszufinden, was ich wie tun kann, um sie zu stärken und zu schützen. Schule ist während unserer Kindheit und Jugend ein zentraler Ort. Abhängig von Bundesland und Schulform, verbringen wir den Großteil unseres Alltags dort und erleben Übergänge in verschiedene Lebensphasen. Neben Wissen erlernen wir bewusst sowie unbewusst Sozialverhalten. Unsere Schulzeit prägt uns in der Regel ein Leben lang. Es sollte selbstverständlich sein, Schüler*innen über Mentale Gesundheit zu informieren.
Wie haben die Schulen, mit denen Sie zusammenarbeiten, auf die Anfrage reagiert, das Programm bei ihnen umsetzen zu wollen?
Von Beginn an wurde mir und dem Modellvorhaben, von meinen jetzigen zwei Kooperationsschulen mit überwältigender Offenheit, Ehrlichkeit, Wertschätzung und Vertrauen begegnet. Was das konkret heißt, möchte ich an einer meiner Kooperationsschulen, dem Leibniz-Gymnasium Potsdam, aufzeigen. Gemeinsam mit der Schulleitung und der Schulsozialarbeiterin wurden schon beim ersten Kooperationsgespräch konkrete Wünsche für eine sinnvolle Umsetzung des Modellvorhabens für den aktuell bewilligten Zeitraum von (nur) einem Jahr besprochen. Ich wurde von Anfang an über die wichtigsten Abläufe, Kommunikationsstrukturen, Räumlichkeiten und über die bereits bestehende Vielfalt an Angeboten für die Schüler*innen informiert.
Durch die Expertise der Schulsozialarbeiterin und der Lehrkräfte, welche sie dankenswerterweise mit mir teilen, konnte ich sehr schnell einen Überblick über den Schulalltag bekommen. Da ich gleich zu Beginn zu den wichtigsten Versammlungen, Konferenzen und Dienstberatungen eingeladen wurde, um mich und das Modellvorhaben vorzustellen, wissen Schüler*innen, Schulpersonal sowie Elternvertretung, wo sie mich erreichen können. Seit dem ersten Tag hatte ich unzählige Gespräche und viel Austausch mit allen Beteiligten. Aus den daraus entstandenen Impulsen und Ideen konnte und werde ich bedarfsgerechte Gruppenangebote erarbeiten und umsetzen.
Ich schätze das warmherzige wie professionelle Willkommen der Schule sehr wert und fühle mich dadurch schon nach so kurzer Zeit zugehörig und als ein wichtiger Teil der Schule. Für mich ist das die perfekte Voraussetzung, um das Modellvorhaben trotz so kurz angesetzter Laufzeit sinnvoll und erfolgreich umzusetzen.
Worin bestehen Ihre Aufgaben als Mental Health Coach-Projektleitung an der Schule?
In erster Linie bin ich die Ansprechperson für Schüler*innen, Lehrkräfte und Schulsozialarbeit, wenn es um die verschiedenen Themen des Bereiches Mentale Gesundheit geht. Ich ermutige sie, sich aktiv mit der eigenen mentalen Gesundheit auseinanderzusetzen. Die primärpräventiven Gruppenangebote, welche ich entweder selbst durchführe oder durch externe Referenten*Referentinnen umsetzen lasse, tragen zu einem offenen Umgang mit dem Thema bei und wirken Stigmatisierung und Vorurteilen entgegen. Thema und Format der Angebote legen die Schüler*innen fest, ich unterstütze sie dabei, gebe Empfehlungen für eine bedarfsgerechte Umsetzung und stehe in engen Kontakt mit der zuständigen Lehrkraft und der Schulsozialarbeit. Sie können nach oder innerhalb des Unterrichts, als Workshop, AG oder als Projektwoche umgesetzt werden.
Durch diese Angebote sowie Gespräche und Verweisberatung erfahren Schüler*innen, welche bestehenden Beratungs- und Unterstützungsangebote es gibt und wie sie diese in Anspruch nehmen können – von lokal bis überregional. So führe ich zum Beispiel seit Beginn des Schuljahres eine wöchentlich stattfindende AG für Schüler*innen der 7. und 8. Klasse und ein sogenanntes Mittagsband, das offen für alle Klassenstufen ist, durch. Bei der AG geht es um Stärkenarbeit und Ressourcenaktivierung, während ich im Mittagsband „Feel the Music“ Schüler*innen durch das Medium Musik an das Thema Gefühle heranführe.
Die Schüler*innen des Schulsanitätsdienstes erarbeiten mit mir kurz- und langfristige Möglichkeiten zu Stärkung und Schutz ihrer mentalen Gesundheit als Ersthelfer*innen. Für die Planung und Umsetzung von Angeboten externer Referenten*Referentinnen ist eine Vernetzung mit Trägern der Präventionsarbeit aus dem Bereich mentale Gesundheit sowie der Kinder- und Jugendhilfe unabdingbar. Ich nehme an lokalen und regionalen Arbeitskreisen, fachspezifischen Austauschtreffen, themenbezogenen Veranstaltungen und schulinternen Fachgruppen teil.
Wie offen begegnen die Schüler*innen dem Thema Mentale Gesundheit?
Der offene, interessierte und vor allem mutige Umgang, den Schüler*innen beim Thema Mentale Gesundheit zeigen, beeindruckt mich jeden Tag. In wirklich jeder Begegnung, die ich seit Beginn meiner Arbeit hatte, machten sie deutlich, wie wichtig es ihnen ist, das zu thematisieren und welchen Bedarf sie für sich, ihre Klasse oder ihre Schule sehen.
Mit Neugier, Engagement und großer Bereitschaft treten sie in Kontakt mit mir und dies meist mit bereits konkret formulierten Wünschen und Vorstellungen für gemeinsame Gruppenangebote. Bislang musste ich keinerlei Überzeugungsarbeit leisten, ganz im Gegenteil, die Schüler*innen spiegeln mir, wie notwendig und überfällig Projekte wie Mental Health Coaches sind.
Das Modellvorhaben Mental Health Coaches ist an die Jugendmigrationsdienste (JMD) vor Ort angeschlossen. Welchen Mehrwert hat das?
Die Anbindung an die Jugendmigrationsdienste hat großen Mehrwert für alle Beteiligten. Die Mental Health Coaches schöpfen aus der jahrelangen Zusammenarbeit der Jugendmigrationsdienste mit lokalen, regionalen sowie überregionalen Trägern, Institutionen und Referenten*Referentinnen. Die Vorbereitungszeit für das Modellvorhaben war zeitlich eng bemessen. Die Erfahrungen aus den bereits bestehenden Netzwerken des JMD mit Beratungsstellen, Schulsozialarbeit, Schulamt und mehr waren und sind für den erfolgreichen Start unverzichtbar.
Da ich bereits seit knapp vier Jahren im Jugendmigrationsdienst Potsdam arbeite, konnte ich auf das Wissen und die Unterstützung der JMD Respekt Coaches und des Jugendmigrationsdienstes im Quartier zählen.
Gleichzeitig erhält der JMD Potsdam durch die Arbeit der Mental Health Coaches konkreten Einblick in die Schulen und können bedarfsgerechte Angebote erarbeiten.
Welche Aktionen planen Sie im Zusammenhang mit dem Tag der psychischen Gesundheit an den Schulen?
Am 11.10.2023 findet am Leibniz-Gymnasium Potsdam der Aktionstag "Mentale Gesundheit" in Form des „Markts der (Unterstützungs-) Möglichkeiten“ statt. Hierfür wurden verschiedene Anbieter*innen aus dem Bereich Mentale Gesundheit in Potsdam eingeladen, um sich und ihre Angebote vorzustellen. Dies geschieht mit interaktiven Infoständen, die während der Pausen und des Unterrichts besucht werden können. Zusätzlich gibt es einzelne Workshops für Klassen. So wird beispielsweise „Achtsamkeit durch Yoga“ für den 6. und 7. Jahrgang angeboten oder Workshops zum Thema „Klarkommen in schwierigen Zeiten. Welche Unterstützung braucht es?“ mit der Oberstufe durchgeführt.
Der Aktionstag ist gleichzeitig der Auftakt der Aktionswoche Mentale Gesundheit. In der Zeit vom 11.10 bis 20.10.2023 wird es verschiedene Angebote für die Schüler*innen geben: den Thementag „Selbst- und Umweltbewusstsein“ am 18.10.23 in Kooperation mit Fairverpackt sowie spezifische Workshops und Infoveranstaltungen.
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Thiemo Fojkar, Vorstandsvorsitzender des Internationalen Bundes (IB), lobt die Arbeit der Mental Health Coaches ausdrücklich: "Die Pandemie bedeutete für Kinder und Jugendliche großen Stress und große Unsicherheit. Dieses Programm ist daher ein richtiger und wichtiger Ansatz. Ich danke allen Mental Health Coaches für ihren tollen Einsatz!"
Die Fragen an Marie Kauer stellte Matthias Schwerdtfeger von der Unternehmenskommunikation des Internationalen Bundes.