Maria Wojtacha ist seit 2019 Direktorin der IB Polska Stiftung in Krakau. Zweck der Stiftung ist die Unterstützung ausgegrenzter Menschen. Sie betreibt unter anderem das Multikulturelle Zentrum Krakau – eine der ersten Anlaufstellen für Migranten*Migrantinnen in der Stadt. Seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs, der sich am 24. Februar zum zweiten Mal jährt, hat sie mit ihrem Team sowie mehr als 10.000 Freiwilligen rund 200.000 Geflüchteten aus der Ukraine geholfen. In diesem Interview spricht sie über ihre Erfahrungen der letzten beiden Jahre und was die polnische Bevölkerung für die Menschen aus der Ukraine tun kann.
Maria, Sie und Ihr Team haben gleich zu Anfang des Ukraine-Kriegs begonnen, ukrainischen Geflüchteten zu helfen. Wie haben Ihre polnischen Landsleute auf die Ankunft der Flüchtlinge reagiert?
Meiner Meinung nach hat die polnische Gesellschaft großartig reagiert. Wir konnten jeder und jedem der kam, innerhalb kürzester Zeit einen Schlafplatz bieten, Essen, Kleidung, Medikamente und Zugang zu Ärzten, Kindergärten und Schulen. Auch die Gesetze wurden auf Grund der Situation schnell angepasst. Ich finde es beachtenswert, dass es als erstes Privatpersonen waren, die Unterstützung anboten. Sie fuhren mit ihren Autos an die Grenze und holten die Menschen aus der Ukraine in ihre Städte und zu sich nach Hause.
Hatten Sie selbst auch gleich von Anfang an persönlichen Kontakt?
Im Jahr 2022 hat so gut wie jeder von uns Menschen aus der Ukraine, die vor dem Krieg nach Polen geflohen waren, bei sich zu Hause beherbergt. Es war eigentlich unmöglich, keine persönlichen Begegnungen zu haben. Natürlich machten die Mitarbeiter unserer Stiftung darüber hinaus auch berufliche Erfahrungen. Immerhin haben wir im Grunde das ganze Jahr 2022 damit zugebracht, Geflüchtete zu unterstützen – in unserem Büro, in den Warenhäusern, an Informationsstellen und so weiter.
Das klingt nach einer sehr großzügigen und warmen Begrüßung. Haben es die meisten der Betroffenen inzwischen – nach zwei Jahren – geschafft, sich mehr oder weniger in einem neuen Leben einzurichten?
Die Tatsache, dass der Krieg andauert, ist natürlich sehr schwierig und macht es den Menschen schwer, voll anzukommen und ein neues Leben zu beginnen. Wenn man sich Sorgen um geliebte Menschen macht, um Familie, Freunde, die dort geblieben sind, die im Krieg kämpfen, dann kann man einfach nicht ganz im Hier und Jetzt leben.
Wie gehen die Kinder mit all der Ungewissheit um? Gibt es Geschichten oder Begebenheiten, die Ihnen besonders nahe gegangen sind?
Es gibt unzählige Geschichten und ich, alle Angestellten der Stiftung, erinnern sich an etliche. Allerdings haben wir versucht, sie schnell wieder zu vergessen, um über die schlimmsten Momente hinweg zu kommen. All das war emotional sehr schwierig für uns und das Jahr 2022 hat uns keine Momente der Schwäche erlaubt. Was ich aber sagen kann, ist, dass jede einzelne Person, für die wir Essen, Kleidung oder ein freundliches Wort hatten, für immer bei uns sein wird – vor allem die Kinder.
Haben Sie so etwas wie einen Verhaltenskodex, wie mit diesen Dingen umzugehen ist?
Wir haben bei uns in der Stiftung die Regel, unsere Schützlinge während unserer Hilfsaktionen nicht zu fotografieren oder ihre Geschichten weiterzuerzählen – das hat etwas mit Respekt für sie und ihre Situation zu tun, in der sich keiner von uns wiederfinden wollen würde. Von Anfang an war es uns wichtig, dass diesen Menschen mit der höchsten Achtung vor ihrer Privatsphäre und ihrem Trauma geholfen wird. Natürlich liegen mir die Familien, die ich bei mir zuhause beherbergt habe und deren Geschichten besonders am Herzen. Aber ich möchte nicht ihre Tragödie nutzen und ihre Privatsphäre verletzen. Es sind Geschichten, die ich in mir trage und die mich für immer begleiten werden.
Welche Unterstützung bei der Integration gibt es?
Wir haben in Krakau keine großen Aufnahmezentren eingerichtet. Alle Menschen sind in Wohnungen untergebracht, manche auch in Wohnheimen, aber die meisten führen bereits ein eigenständiges Leben. Unsere Hauptaufgabe ist jetzt der Betrieb eines Gemeinschaftszentrums, in dem wir verschiedene Integrationsaktivitäten und Sprachkurse sowie Berufsberatung anbieten.
Auch gibt es weiterhin psychologische und juristische Unterstützung sowie Informationen für Menschen aus der Ukraine. Es gibt etliche Integrationsprogramme von Nichtregierungsorganisationen und auch von Einzelpersonen. Eine beträchtliche finanzielle Unterstützung kommt von den Programmen der in Polen vertretenen UN-Organisationen. Wir versuchen alles zu tun, damit die Menschen aus der Ukraine wieder handlungsfähig werden und ein normales Leben führen, und eines Tages, wenn sie wollen, in ihre Heimat zurückkehren können.
Über welche Langzeitlösungen zur Verbesserung ihrer Situation wird nachgedacht?
Bildung, Integration und Spracherwerb sind zentral. Am allerwichtigsten ist, dass alles, was wir vorhaben, flexibel ist, denn die Situation ist sehr dynamisch. Wir sollten Verständnis haben für jede Entscheidung, die die Menschen aus der Ukraine treffen – für eine plötzliche Heimkehr genauso wie für die Entscheidung zu bleiben. Wir sollten eines nicht vergessen: Wo auch immer sie sind, sie beginnen ein neues Leben.
Kann die polnische Bevölkerung irgendwie dazu beitragen, dass das Leben für die Geflüchteten erträglicher wird?
Ich denke, am Wichtigsten ist es, für sie da und mit ihnen zu sein, so dass sie sich nicht wie Fremde fühlen müssen. Sie sollten wissen, dass sie erwünscht sind in Polen: Ihr seid in Sicherheit, bleibt solange ihr wollt und müsst! Wir sind gemeinsam in diesem Krieg und gemeinsam sind wir dagegen.
Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft?
Ich habe immer noch Kontakt mit allen, die bei mir gelebt haben, und ich denke und hoffe sehr, dass wir uns eines Tages wiedersehen. Wir warten alle darauf, in der Ukraine einen Kaffee zu trinken, irgendwann in Lwiw. Möge das bald möglich sein!
Die Fragen stellte Carina Russo Valdigem.
Weitere Informationen zur IB Polska-Stiftung:
Video über die Arbeit des IB Polen für ukrainische Geflüchtete