„Ein Dach über dem Kopf kann nur der erste Schritt sein“


Frage: Frau Stockinger, Frau Farkas, Sie betreuen beinahe 700 wohnungslose Klienten*Klientinnen in einem Ihrer fünf Häuser. Inwieweit passen eine Sofortunterbringung
und der Begriff Heimat zusammen?

Heike Stockinger: Zunächst geht es hier nicht um Heimat. Sofortunterbringung heißt: Jede Person, die sich beim Amt für Wohnen und Migration in München wohnungslos meldet, hat das Recht, untergebracht zu werden. Denn die Landeshauptstadt München hat dafür zu sorgen, dass eine ordnungsrechtliche Unterbringung im Rahmen ihres Hoheitsgebiets erfolgt. In unserem Fall hat das Wohnungsamt den kompletten Überblick und verteilt sämtliche Wohnungssuchende. Man muss sich das mal vorstellen, es gibt 9000 wohnungslose Menschen in München, die irgendwo untergebracht werden müssen.

Renata Farkas: Familien, die uns zugewiesen werden, haben erst einmal ein Dach über dem Kopf. Das ist noch keine Heimat! Im Familienhaus Wilhelmine-Reichard-Straße sind aktuell bis zu 190 Personen, sprich 50 Familien untergebracht. Manchmal haben wir auch Großfamilien mit neun oder zehn Personen. Unsere Kunden*Kundinnen sind nicht in Wohnungen, sondern in Zimmern untergebracht, ein Zimmer bietet maximal fünf Personen Platz. Diese benutzen dann mit einer anderen Familie zusammen eine gemeinsame Küche und ein gemeinsames Bad. Da fehlt dann die Privatsphäre und jeder Konflikt ist sozusagen öffentlich.

Frage: Ihr Team zählt derzeit 30 hauptamtliche Mitarbeitende und Sie sollen als Sozialbetreuung einschätzen, wie mietfähig Ihre Kunden*Kundinnen für spätere, dauerhafte Wohnmöglichkeiten sind. Oft sprechen Ihre Kunden*Kundinnen aber kein Wort Deutsch oder sind Analphabeten*Analphabetinnen. Wie erledigen Sie unter diesen Gegebenheiten Ihren Auftrag?

Renata Farkas: Sobald wir die Info bekommen, dass eines unserer Zimmer einer neuen Familie zugewiesen wird, beginnt unsere Arbeit. Wir erfahren, wie lange die Personen bleiben dürfen und welche Papiere sie erbringen müssen. Dann laden wir diese Familie ein, stellen uns vor und erklären, wer wir sind. Wir haben einen Etat für Dolmetscher*innen, die wir dazu einschalten können. Wenn die Personen die Datenschutzerklärung unterschrieben haben, dürfen wir für sie mit Ämtern, Schulen etc. in Verbindung treten. Das Schöne beim Internationalen Bund und beim Betreuungssystem ist, dass wir in Tandems arbeiten. Die Sozialpädagogen*Sozialpädagoginnen sind für die Eltern und Erwachsenen zuständig und schauen, dass die Familie ihr erstes Geld erhält und das Existenzielle sichern kann. Und die Erzieher*innen schauen auf die Kinder, so dass wir einen ganzheitlichen Blick auf die Familie haben. Und das ist insbesondere beim Thema Kinderschutz sehr wichtig.

Heike Stockinger: Vertrauen und Beziehungen herzustellen, sind die Grundpfeiler unserer Arbeit. Unsere Beratung ist freiwillig. Dennoch lautet unser Auftrag, so viele Personen wie möglich zu erreichen. Inzwischen haben wir sehr viel Erfahrung darin, wie wir das Klientel für uns gewinnen können. Es gibt Leute, die stehen sofort nach dem Einzug vor der Tür und es gibt Familien und Personen, die ihre Zeit brauchen, um sich anzunähern. Wir machen sehr viele Angebote – sei es für Erwachsene, für Jugendliche oder Kinder – mit unterschiedlichen Methoden und Projekten. Nebenbei gibt es viel Erziehungs-, Aufklärungs- und Informationsarbeit. Wir selbst haben ja teilweise Schwierigkeiten, das deutsche bürokratische System zu verstehen. Wie soll es da Menschen gehen, die ihr Leben bislang in Bulgarien oder Rumänien verbracht haben! Unsere Arbeit ist also sehr breit gefächert und wir benötigen sehr viel fachliches Know-how, Gespür und Handwerkszeug.

Frage: Sie betreuen zwei Häuser für Singles und Paare und drei Häuser für Familien. Welche Rolle spielen die Kinder in ihrer täglichen Arbeit?

Heike Stockinger: Ich erlebe oft, dass die Kinder der Türöffner für den Kontakt mit den Eltern sind. Die Eltern sehen dann, dass es ihren Kindern in der Kinderbetreuung gut geht und dass bei uns vieles gemacht wird und dass etwas passiert. Das ist ein schöner Weg: Über die Kinder zu den Familien, bei denen wir zuvor oft vergeblich versucht haben, sie dazu zu bewegen, in die Beratung zu kommen. Ein anderes Thema ist die Kindeswohlgefährdung: Dort intervenieren wir frühzeitig, das heißt, wir bieten sehr früh Hilfe an, damit wir erst gar keine Ämter einschalten oder Inobhutnahmen in Anspruch nehmen müssen. Die Projektarbeit mit Kindern hat ebenso einen hohen Stellenwert. Besonders ansprechende Ergebnisse gab es beim Kinderprojekt Traumhaus, das eine Erzieherin und Kunsttherapeutin mit fünf Kindern gemacht hat.

Wieso Kunsttherapie gerade bei Kindern so wirksam ist

Renata Farkas: Kinder können manchmal Brücken über religiöse und politische Differenzen hinweg schlagen. Ich hatte einmal eine Hausversammlung mit 30 Männern, die zwei miteinander verfeindeten ethnischen Gruppen angehörten. Und die haben plötzlich mitten im Meeting einen erbitterten Streit begonnen. Ich sagte den Männern ganz offen, dass ich sehr enttäuscht von ihnen bin. Weil sie alle ja nach Deutschland gekommen sind, um ihren Kindern Schutz vor dem Krieg zu bieten und sie in Frieden  aufwachsen zu lassen. Und nun führen sie als Väter Krieg in diesem Haus! Die Männer waren dann alle sehr betroffen und peinlich berührt. Danach gab es zwischen diesen Familien nie mehr irgendwelche Zwischenfälle. Die Kinder waren ihre Gemeinsamkeit und das Band zwischen ihnen. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich.

Frage: In Ihrem Familienhaus Wilhelmine-Reichard-Straße leben Familien durchschnittlich zwei bis drei Jahre. Entsteht bei den Familien während dieser Zeit tatsächlich  kein Heimatgefühl?

Heike Stockinger: Ich glaube, dass es beim Begriff Heimat einen Unterschied macht, ob man aus seiner Heimat, einem Kriegsgebiet, flüchten muss oder ob man sich  bewusst auf den Weg nach Deutschland gemacht hat, um ein neues und besseres Leben aufzubauen. Gerade bei den syrischen Familien habe ich oft eine große Verbundenheit mit und Sehnsucht nach ihrem Land gespürt. Die Menschen hatten dort alles, was für ihr Leben gut, richtig und wichtig war. Und hier wieder bei Null zu  starten, das war für sie schon eine große Herausforderung.

Renata Farkas: Damit man sich hier heimisch fühlen kann, muss man kommunizieren können mit den Menschen, nur dann fühlt man sich verstanden. Wo man sich  verstanden fühlt, fühlt man sich geborgen und sicher. Ich glaube, das sind so die wichtigen Dinge, die wir dann mit den Familien erarbeiten. Man spricht immer von Integration – aber Integration ist noch lange nicht Heimat. Dieses Heimatgefühl muss man den Personen nahebringen, zum Beispiel mit Ausflügen. Man muss die Familien herausholen aus diesem Zimmer und ihnen ihre neue Heimat zeigen, damit sie sich dann auch damit identifizieren können und wollen. Und damit sie auch merken, dass diese neue Heimat ihnen Gutes will.

Frage: Sie versuchen also, Ihren Kunden*Kundinnen mit allen erdenklichen Mitteln, Wegen, Projekten, Beziehungsarbeit und Vertrauensaufbau ein Stückchen Heimat in Deutschland zu geben. Wie bewahren Sie bei dieser Arbeit Ihre eigene innere Heimat?

Heike Stockinger: Wenn man den Beherbergungsbetrieb abends verlässt und sieht, wie die Erwachsenen alle im Innenhof in der Karlsfelder Straße sitzen, kommt man regelmäßig ins Grübeln. Die können jetzt nicht einfach nach Hause gehen, die Tür zumachen und ihre Ruhe haben. Da bin ich dann sehr sehr dankbar, dass ich das habe, was ich habe. Und dass ich alles für meine Bewohner*innen gemacht habe, was in meiner Macht stand. Und wenn ich das guten Gewissens und nach sozialpädagogischer Einschätzung machen konnte, dann bin ich zufrieden. Für mich persönlich bedeutet außerdem Heimat gleich Beziehung. Renata Farkas: Also meine innere Heimat ist mir besonders wichtig. Ich bin auch froh, wenn ich abends aus dem Haus gehe und weiß, das ich alles getan habe, was möglich war, dass ich das Haus nicht in Unruhe und nicht in einer Krise hinterlasse. Das ist wichtig. Wir brauchen natürlich alle auch die Fähigkeit, uns distanzieren zu können. Denn die Familien brauchen uns am nächsten Tag wieder fit und gestärkt. Und ich denke, es schadet auch nicht, gute Laune zu haben. Außerdem darf man den Spaß im Team untereinander nicht vergessen. Wir suchen immer nach einem gemeinsamen Weg mit unseren Klienten*Klientinnen: Denn es gibt immer eine Möglichkeit. Sie ist allerdings nicht immer leicht.


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